SZ AM WOCHENENDE Samstag, 2. September

Karin Steinberger:
Der Hammer kommt erst später Zauberpilze, Kakteen, Aphrodisiaka: Der präzise Blick des Ethnobotanikers Christian Rätsch


Am Anfang ist es mit Christian Rätsch ein bisschen so wie mit dem „Spitzkegeligen Kahlkopf“: Beide erscheinen einem auf den ersten Blick als etwas schmächtig, verglichen mit dem Ruf, der ihnen vorauseilt. Doch man sollte sich nicht täuschen lassen. Sowohl Rätsch, das enfant terrible der deutschen Ethnologenszene, wie auch der Spitzkegelige Kahlkopf, der magic mushroom deutscher Pilzfreunde, zeigen ihre besondere Wirkung erst ein wenig zeitverzögert.

Beider Auftritt ist zunächst also nichts als pures Understatement. Der Spitzkegelige Kahlkopf tarnt sich als kümmerlicher Wiesenpilz. Erst nach dem Verzehr offenbart er seine psychoaktiven Wirkungen. Denn erst wenn die Pilze „mit einem sprechen“, öffnen sich Tore in andere Welten. „Drogenapostel“ Timothy Leary etwa geriet nach der Einnahme des heiligen mexikanischen „Zauberpilzes“ Teonanacatl in eine mystische Ekstase, die er als tiefste religiöse Erfahrung seines Lebens bezeichnete. Und Ernst Jünger sagte nach seinem Pilz-Experiment erschöpft: „Wie schön, wieder unter Menschen zu sein. “

Die haben es langsam geschnallt
Nun, ganz so gewaltig ist die Wirkung von Christian Rätsch zwar nicht. Aber wer einmal eine Vorlesung des Altamerikanisten und Ethnopharmakologen miterlebt, der wird danach wohl auch ein wenig brauchen, um zurückzukehren in die banalen Niederungen des Universitätsalltags. Schon sein Erscheinungsbild ist metaphysisch. Wer Christian Rätsch das erste Mal sieht, versteht sofort, was die kryptische Antwort eines Freundes zu bedeuten hat, den man gefragt hat, wer von den Anwesenden denn nun Rätsch ist: „Sie werden ihn erkennen. “ Sein Outfit ist eine Art Anschlag: eng anliegende Hosen, die seit Anfang der achtziger Jahre eigentlich verboten sind, und ein Hemd, das der Farbexplosion eines LSD-Rausches nachempfunden zu sein scheint. Quer über die Brust hat sich Rätsch eine Schellenkette gehängt, die jedesmal tibetanisch klimpert, wenn er sich bewegt. Er sieht aus wie jemand, der sehr deutlich machen will, dass an ihm rein modisch gesehen die letzten zwanzig Jahre schlichtweg vorbeigegangen sind. Über seinem zierlichen Körper bauscht sich eine silbergraue Haarwolke auf, die sich irgendwo weit unter dem Gesicht mit der rötlichen Haarpracht seines Bartes vermischt. Die Brille ist groß und getönt. Selbst ein Meskalinrausch kann eine derartige Erscheinung nicht hervorbringen.

Das ist er also: Dr. phil. Christian Rätsch, geboren 1957. Seit mehr als zwanzig Jahren erforscht er den ethnomedizinischen und rituellen Gebrauch von Pflanzen, im besonderen die kulturelle Nutzung psychoaktiver Pflanzen im Schamanismus. Er ist Autor zahlreicher Bücher mit Titeln wie „Pflanzen der Liebe“, „Pilze der Götter“, „Urbock – Bier jenseits von Hopfen und Malz“ und ist Verfasser des bislang einzigartigen Standardwerks „Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen“. Nebenbei ist Rätsch ethnologischer Beirat des Europäischen Collegiums für Bewusstseinsstudien (ECBS), Mitglied des Vorstands der Arbeitsgemeinschaft für Ethnomedizin (AGEM) und Herausgeber der Schriftenreihe „Ethnomedizin und Bewusstseinsforschung“. Er selbst bezeichnet sich je nach Laune als „Euro-Trance-Mitter“ oder „Berufs-Myzelium“.

Da steht er nun also bei der Präsentation seines neuesten Buchs „Schamanismus und Tantra in Tibet“ (AT Verlag) im Museum für Völkerkunde in Hamburg. Wie ein Fremdkörper wirkt er in den Hallen der Wissenschaft. Das Hemd hat er offen bis zur Brust, und dann dankt er erst mal seiner Mutter und seinem Vater. Seine Frau und Mitautorin Claudia Müller-Ebeling sagt: „Wir sind nicht ganz stubenrein. “ Nein wirklich, stubenrein war Rätsch noch nie. Es war schon immer eine seiner liebsten Tätigkeiten, das eigene Nest zu beschmutzen und auszuscheren aus dem Expertenklüngel: inhaltlich und optisch. Der Unibetrieb ist ihm zutiefst zuwider. Universitäten, sagt er später, „sind Grabesstätten der Wissenschaft und Professoren die Friedhofswärter“. Christian Rätsch liebt es zu provozieren, da ist er wie ein kleines Kind.

Und so beginnt er dann auch die anschließende Vorlesung mit einer kleinen Spitze: „Keine Ahnung, wie viele von ihnen akademisch gebildet oder verbildet sind“, sagt Rätsch. Der Hörsaal ist brechend voll. Es ist schon ein paar Jahre her, dass ihn die akademische Welt noch ignorieren konnte. „Die haben es langsam geschnallt“, sagt Rätsch. Eigentlich gebe es nur noch einen, der ihm fehlende Kompetenz vorhält. Rätsch nennt ihn seinen „lieben Heini“. Einen Privatdozenten, „der von nichts eine Ahnung hat. Der hasst mich wie die Pest. “ Bei soviel Inkompetenz sei das eine Auszeichnung.

Dann folgt eine rituelle Flaschenöffnung im Hörsaal. Whiskeyflaschen und Berge von fein aufgeschnittenem Fleisch werden herumgereicht. Auch eine Art zu sagen, dass man sich als Wissenschaftler nicht nur nüchtern annähern darf, sondern auch involviert ist. „Willkommen im Himalaya“, sagt er, und die Schellen an seinem Körper klimpern. „Whiskey und Fleisch sind die Nahrung der Schamanen. Wenn Sie etwas über Schamanismus erfahren wollen, dürfen sie kein Vegetarier sein. “ Oh ja, Rätsch ist ein großer Meister, wenn es darum geht, Fachwissen zu vermitteln. Auch wenn er weiß, dass er bisweilen Beifall von der falschen Seite bekommt, von „nervigen Esoquatsch-Stimmen“, die von nichts eine Ahnung haben und alles durcheinander mischen: Schamanismus, Tantra, Tarot, Heilen mit Kristallen und Handauflegen. Er habe immer hochwertige Bücher gemacht, hat darum gekämpft, dass auch in einem nicht akademischen Buch Fußnoten und Tabellen stehen. „Es gibt eine hungrige Masse, die Qualität will, Tiefe und keine Ramschtischware. “

Und Rätsch füttert diese Masse – unterhaltsam und auf fachlich höchstem Niveau. Mehr als 20 Jahre lang hat er sich mit Schamanismus in Tibet beschäftigt. Unzählige Forschungsreisen in die äußere und innere Welt hat er unternommen. „So eine schamanische Sitzung ist eine unheimliche Attacke auf das System. Nach einer Trance wirken drei Schluck Whiskey wie eine Tube Uhu. “ Gelächter. Ergebnis der jahrelangen Forschung seien Erkenntnisse, von denen „andere nur träumen können“. Und er habe sich – auch das nicht unbedenklich – ganz rigoros auf die Seite der Schamanen gestellt. „Jeder von denen verdient einen Nobelpreis für angewandte Pharmakologie. “ Seit dem 17. Jahrhundert sei der Schamanismus in unfassbar widerlicher Form dargestellt worden, sagt er. „Schamanen wurden als Verrückte dargestellt, die den Königen miese Dinge ins Ohr flüstern. “ – „Braucht noch jemand Fleisch?“

Am nächsten Morgen sieht Rätsch aus, als hätte er in der Nacht mehrere schamanische Sitzungen durchgemacht. Sein System ist offensichtlich angeschlagen. Die Buchpräsentation hatte man wohl ein wenig gefeiert. Und da in der Wohnung noch ein paar Freunde schlafen, soll das Interview bei den Eltern stattfinden. Rätsch mag zwar schon unzählige Reisen in äußere und innere Welten gemacht haben, „aber ich bin in meinem Leben nur ein einziges Mal umgezogen. Von hinter dem Wald vor den Wald. “ Mit 26. Kein Scherz. Der Spaziergang von seiner Wohnung zum Haus seiner Eltern führt durch einen kleinen Park, vorbei an den „Ritualplätzen“ seiner Jugend. „Das ist mein Olymp“, sagt Rätsch. Und dann meint er plötzlich: „Mann, wir sind hier in Berne, da gibt es nichts als Naturliebe und die absolute Freiheit. Ich bin im Paradies aufgewachsen, in vollkommener Gedankenfreiheit. Ohne Religion, ohne Glaube und mit nackten Eltern. “ Für einen, der unter anderem drei Jahre lang bei den Lakandonen-Indianern im mexikanischen Regenwald lebte, hat er eine fast besessene Heimatverbundenheit – vielleicht aber auch gerade deswegen.

Es sei die Mutter gewesen, die als erste gemerkt habe, dass er nicht ganz normal sei, meint er dann. „Ich habe immer schon ziemlich abgedrehtes Zeug geredet. “ Mit drei Jahren wusste er bereits, dass er Dschungelforscher werden wollte. Mit sechs war eine illustrierte Enzyklopädie der Kulturgeschichte sein Lieblingsbuch, mit sieben Jahren war Paläontologe sein Traumberuf. Mit 14 dann wollte er irgendwas mit der Oper machen: „Meine Einstiegsdroge war Lohengrin. “ Und dann kam Nietzsche. „Das war der erste Mensch, der meine Gedanken formulieren konnte. “ Die Schule habe ihn von Anfang an ganz furchtbar gelangweilt, meint er dann. Irgendwann hat er beschlossen, keine Schulaufgaben mehr zu machen. „Die wollten mich ständig bestrafen. Aber das kam bei meinen Eltern nicht an. Wie auch, die Eltern meiner Mutter waren Gründungsmitglieder der Nudistenbewegung. “ Wenn er es kurz fassen müsste, würde er seinen Werdegang so beschreiben: Hendrix, Wagner, Nietzsche, LSD, Lakandonen.

Und irgendwann war er dann bei den Drogen und damit mitten in einer Thematik, die mit blinden Ängsten und Emotionen beladen ist, so dass eine sachliche Diskussion kaum mehr möglich ist. Und auch wenn er wie Albert Hofmann, der Entdecker des LSD, keineswegs für einen leichtsinnigen Drogenmissbrauch plädiert, so findet er die öffentlich geführte Diskussion um Drogen einfach nur dumm. „Das mit der Sucht ist ein linguistisches Problem. Dann ist mein Vater abhängig von Vitamin B, ich von Büchern und 20 Millionen Menschen von Kaffee und Aspirin. Es gibt keine Drogenabhängigen, nur gestörte Persönlichkeiten, die glücklich sind, wenn sie eine Substanz finden, mit der sie ihr Leben überhaupt in den Griff bekommen. Ein gesunder Mensch nimmt einmal Heroin und dann nie wieder. “ Dann pflückt Rätsch eine Blume im Garten seiner Eltern und sagt: „Ich brauche keine Religion, keine Politik, es reicht eine Blüte. “

Ein Haufen bekiffter Freaks
Es macht ihn wirklich wütend, wenn er sieht, wie „dieses dumme Politikerpack“ die Drogendiskussion missbraucht, als seien die Menschen keine selbstverantwortlichen Wesen, sondern nur steuerzahlende, bedeutungslose „Miststücke“. Letztlich basiere doch die gesamte westliche Kulturgeschichte auf einem einzigen Drogenexzess, meint er dann. „Platon und Sokrates, die haben doch nichts anderes gemacht, als sich gemeinsam zu berauschen, rumzuliegen und Knaben zu ficken. Das ist die Basis der europäischen Kulturgeschichte: Ein Haufen bekiffter Freaks. “ Auch die Alchimisten seien eigentlich nur auf der Suche nach der ultimativen Droge gewesen. Aber dann kamen die Neoplatoniker, das seien die Schlimmsten gewesen, „die haben das ganze für die Nachwelt umgedeutet und somit in den Dreck gezogen. Und dann haben sie ihre grauenhaften Kirchen auf unsere schönen heidnischen Plätze gestellt. “ Allein die Tatsache, dass sie jedes Jahr am selben Tag Jesu Geburtstag feierten, aber jedes Jahr an einem anderen Tag seinen Tod, das sage doch schon einiges über das Christentum, so Rätsch. An Ostern lache er sich jedesmal tot darüber, wie dumm das Christentum sei. „Die Hasen, das sind die heiligen Rammeltiere von Freia, der germanischen Göttin der Fruchtbarkeit. “

Rätsch, der Ketzer. Er liebt seine Rolle. Und so ist auch sein letztes Statement zu verstehen: „Nicht, dass Sie mich falsch verstehen, ich bin gegen die Legalisierung von Drogen. Dann müsste ich dafür auch noch Steuern zahlen. “